Man sagt, die Werke Galens von Pergamon (129–200/210) stellten nahezu ein Achtel der gesamten überlieferten griechischen Literatur von Homer bis zum Ende des 2. Jahrhunderts unserer Zeitrechnung dar. Und dies, obwohl zahlreiche seiner Traktate verloren gegangen sind und andere nur in Form von Übersetzungen ins Lateinische, Arabische und selten auch ins Hebräische erhalten sind.
Dank seiner gründlichen Kenntnis der klassischen Literatur und Philosophie und der sich daraus ergebenden sophistischen Gewandtheit konnte er sich in der Naturphilosophie auszeichnen. Sein ganzes Leben lang suchte er die medizinische Wissenschaft zu Kunstrang zu erheben, ohne jedoch die praktischen Fertigkeiten zu vernachlässigen, die er in Smyrna, Korinth, Alexandria und Pergamon vervollkommnete, wo er als Arzt der Gladiatoren tätig war1. Diese Suche nach einer edlen Verbindung zwischen Theorie und Praxis findet ihren vollendeten Ausdruck in der Behandlung des Weines, dem zahlreiche Stellen seiner Werke gewidmet sind.
Als berühmter Abkömmling der hippokratischen Tradition hat er deren Corpus eingehend kommentiert, insbesondere Über Diät bei akuten Krankheiten2. In dieser Überarbeitung verdichtet und erweitert er die strenge Klassifikation seines Vorgängers und nennt konkrete Weinsorten zur Veranschaulichung der wesentlichen hippokratischen Kriterien: Farbe, Geschmack, Substanz, Duft und gesundheitsförderliche Eigenschaften.
In einer Abhandlung über Gegenmittel unterscheidet Galen verschiedene Arten von Weinen: dichte, starke, schwache (oder wässrige), herbe, saure Weine, was ihn wiederum zu deren jeweiliger Lagerfähigkeit führt: mäßig für die „leichteren Weißweine“, beachtlich für die „starken, bitteren und vollen Weißweine“. Zwei Weine setzen sich deutlich von allen anderen ab: der Sorrentiner und der Falerner Wein.
„Muss man über Wein aus Surrentum überhaupt Worte verlieren? Jedermann weiß, dass er sich gut zwanzig Jahre ungealtert hält. Er erreicht seinen Höhepunkt in einem solchen Alter, bleibt lange Zeit gut trinkbar, neigt nicht dazu, bittere Noten anzunehmen, und ist gleichwertig mit einem Falerner.“
Galen, Über Gegenmittel I. 3 3
In zahlreichen seiner Schriften betont Galen die Bedeutung des „Terroirs“, des spezifischen Anbaugebiets, hinsichtlich der Lagerfähigkeit eines Weines. Auch wenn er nicht der erste Arzt war, der die therapeutischen Anwendungsmöglichkeiten des Weines pries, so setzte er sich jedoch durch die äußerst akkurate Beschreibung der spezifischen Eigenschaften einer Vielzahl von Weinen ab. Eine solche Strebsamkeit ließ ihn zu einem der ersten aufgeklärten Weinliebhaber in der Geschichte des Denkens werden4.
So wie die meisten von uns, legte er einen gewissen geschmacklichen Chauvinismus an den Tag, den er jedoch durch unersättliche Neugier überwinden konnte. Abgesehen von den Weinen aus Kleinasien erkennt er den Wert der italienischen Erzeugnisse an und äußert mehrmals eine besondere Schwäche für den berühmten Falerner Wein. Galen spricht von einem Wein mit beeindruckendem Bouquet, das sowohl die Objektivität eines Weinkenners als auch das subjektive Wohlgefallen eines Liebhabers zu stimulieren weiß. Und auch wenn, wie er bemerkt, Worte nicht ausreichen, um die sinnlichen Empfindungen zu beschreiben, gelingt es dem Wein doch, Verstand und Gefühle zueinander zu führen. Der Beweis: Wenn man einen Wein zum ersten Mal kostet, den man eigentlich nur aus einer einfachen Beschreibung kennt, kann man ihn durchaus erkennen. Dieselbe Beschreibung ist sogar in der Lage, die Weinprobe zu einem ganz besonderen und prägenden Erlebnis werden zu lassen5.
Galen hebt in der Kategorie der Prestigeweine aus dem Falernergebiet zwei Sorten auf Grund ihres runden und lieblichen Charakters hervor und betont diesen insbesondere für den „Faustinum“ genannten Wein6. Diese Süße bildet das Gleichgewicht zwischen einer adstringierenden und einer bitteren Note, den beiden anderen Geschmacksrichtungen, nach denen Galen Wein einstuft. Der Geschmack jedoch offenbart die Konsistenz und die gesundheitsförderlichen Eigenschaften eines Weines. So erweist sich der dichte und liebliche Faustinum-Wein als ideale Rezepturzutat bei der Herstellung von Gegenmitteln, insbesondere von Theriak, dem Antidot schlechthin7.
Galens kleines Handbuch Das Buch von den Weinen verdient es, eigens besprochen zu werden: Das äußerst kompakte Werk steht in der klassischen hippokratischen Tradition und wurde später immer wieder übernommen, als eine Art Leitfaden der medizinischen Literatur über Wein8. Galen untersucht vorrangig die Substanz verschiedener Arten von Wein, wobei er mit dem klarsten beginnt, den „man als wässrig bezeichnet“, auf Grund der Ähnlichkeit mit Wasser in Farbe und Konsistenz, aber auch, so erklärt er nachgehend, wegen des wenig adstringierenden Charakters. Der Geschmack ist etwas fade und Galen rät davon ab, ihn mit einer größeren Menge Wasser zu verdünnen, damit der spärlich vorhandene Weincharakter nicht ganz verloren geht9. Seine harntreibende Wirkung ist auf die schnelle Aufnahme in den Körper zurückzuführen. Im Unterschied zu Wasser ist dieser Wein dennoch nicht von „kalter Natur“, selbst wenn sich sein Temperament im Vergleich zu anderen Weinen eher gemäßigt zeigt. Dieser klare Wein stärkt die Lungen und verflüssigt die Körpersäfte (und nicht nur das Blut), sein ruhiges Temperament eignet sich auch für Fiebererkrankte – im Gegensatz zu anderen Weinen und unreinem Wasser – und für junge Menschen sowie cholerisch veranlagte Personen, bei denen das warme und trockene Temperament vorherrscht. Dieser Wein verursacht keine Kopfschmerzen und schützt vor plötzlich auftretenden Blähungen10. Galen geht dann zu einer gegensätzlichen Beschreibung süßer und reicher Weine über.
Diese Gegensätzlichkeit ermöglicht eine Suche nach der vollständigen Abstimmung zwischen der menschlichen Natur und der Substanz des Weines, die man dann bei seinen Nachfolgern wiederfindet. Für die vormodernen Gelehrten ging die Erforschung der Harmonie zwischen Wein und Weintrinker weit über das hinaus, was uns heutzutage so sehr beschäftigt, d.h. der Einklang von Gerichten mit den passenden Weinen. Diese Nähe zwischen Wein und menschlichem Körper im metamorphischen Sinn, das war es, was Galen inspirierte. So konnte er die physiologischen Mechanismen erklären, wie zum Beispiel in Form einer Parallele zwischen Blutbildung und Weinherstellung11.
Galen verwendete diesen Vergleich, um die Bildung der Säfte und Temperamente sowie auch die Essigeigenschaften der schwarzen Galle oder von Essig zu erklären, welche eine ätzende Wirkung auf den Magen ausübten (Über die natürlichen Fähigkeiten, II.9). Der Wein folge somit den Körperbewegungen, dem guten Funktionieren des Körpers, optimaler Blutbildung, und finde einen Gegensatz in der potenziellen Verschlechterung der Körpersäfte durch Falschsubstanzen.
Für Galen sind der Geschmack und die Blume eines Weines untrennbar verbunden mit seiner Substanz, die den Charakter und die Komplexität eines Weines ausmacht. Die Weinkenntnisse und die Suche nach unterschiedlichen Möglichkeiten, darüber zu sprechen, sind weit davon entfernt, den sinnlichen Charakter der Erfahrung einer Weinprobe abzuschwächen, sondern eröffnen im Gegenteil den Zugang zu subtileren Dimensionen. Abgesehen vom rein physischen Phänomen einer Weinprobe, erquickt diese eine Seele, die erzwungenermaßen den Körpertemperamenten unterliegt12. So erlaubt der Wein es Galen, sich sowohl als Diener der Heilkunst als auch als Sprachrohr der Moralphilosophie auszudrücken.
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1 Für eine Darstellung von Galens „Heilkunst“ siehe die Einführung von Véronique Boudon zu ihrer Ausgabe Galien, Band 2, Paris, Les Belles Lettres, 2000, S. 168-170; 224-252.
2 Siehe Wesley D. Smith, The Hippocratic Tradition, Ithaca, N.Y., Cornell University Press, 1979, insbesondere Kapitel 2, „Galen’s Hippocratism“, S. 61-176.
3 De antidotis. Übersetzung ins Deutsche nach Kühn XIV, 14-19.
4 Siehe die Einführung zu den Werken Galens von Véronique Boudon, s.o., Band. 2, Paris, Les Belles Lettres, 2000, S. 168-170; 224-252.
5 Galen, De dignoscendis pulsibus (Über die Pulsdiagnose) 11, siehe Kühn VIII, 774-5.
6 Galen, Methodus medendi (Die therapeutische Methode) XII 4, siehe Kühn X, 832.
7 Galen, De antidotis (Über Gegenmittel) I 3, siehe Kühn XIV, 20.
8 Dieser Text findet sich in zahlreichen Werken aus dem Mittelalter, u.a. mss. Paris, BnF Lat. 6865, fol. 53vb-54va; N.A.L. 343, fol. 69r-70r. (fol. 74-107 für De alimentis), und sein Inhalt weicht in der hier verwendeten Ausgabe nur geringfügig ab (Ausgabe Venedig 1490, in: Galen, Opera, Band 1, fol. 135vb-136rb).
9 Galen, Le livre des vins, Ausgabe Venedig 1490, Band 1, fol. 136rb.
10 Galen, De facultatibus naturalibus (Über die natürlichen Fähigkeiten) III.15.
11 Galen, IV.3. Der französische Originalartikel stützt sich auf die Übersetzung von Charles Daremberg in: Œuvres médicales choisies, Band 1, S. 281-282. De l’utilité des parties du corps humain.
12 Galen, Quod animi mores corporis temperamenta sequantur (Dass der Charakter der Seele den Temperamenten des Körpers folgt). Der französische Originalartikel stützt sich auf die Übersetzung von Barras Birchler Morand, 2004, § 1; 3 (Que les facultés de l’âme suivent les tempéraments du corps).