Das Phänomen Naturwein verstehen

17 Dec 2020

An der Gesprächsrunde, die von Guido Baldeschi, Leiter des OIV-Referats „Weinbau“, moderiert wurde, nahmen 5 internationale Referenten mit unterschiedlichen Profilen und Erfahrungen im Weinsektor teil. Biographie der Redner hier abrufen [EN/FR].

Das Webinar bestätigte, dass das Thema Naturweine lange Debatten auslöst, schon allein über die zu verwendende Terminologie, vor allem beim Vergleich mit anderen Weinarten. Konventionelle Weine? Unkonventionelle Weine? Traditionelle Weine? Naturweine? Klassische Weine? Die Meinungen in der Weinbranche über die Verwendung einer angemessenen Terminologie gehen auseinander.

Der Einfachheit halber entschied sich die OIV in dem Webinar dafür, „Naturweine“ und „klassische Weine“ gegenüberzustellen, wohl wissend, dass nicht jeder diesen Begriffen zustimmt. Die OIV gibt in dieser Hinsicht keine Empfehlungen ab, da sie noch keine Position vertritt.

Dennoch war dieses Seminar ein Beitrag zu den Arbeiten, die die OIV zu diesem Thema durchführt. Es ist die Aufgabe unserer Organisation, einen wissenschaftlichen Standpunkt zu diesem Thema zu vertreten und den Sektor aufzufordern, diesbezüglich Überlegungen anzustellen.

In diesem Artikel sind die in dem Webinar vorgetragenen Hauptgedanken zusammengefasst, um eine Orientierungshilfe zu geben.

Ursprung der Bewegung

Zu Beginn des Webinars erläuterte Christelle Pineau den Hintergrund aus anthropologischer Sicht und hob die Vielzahl der möglichen Definitionen hervor, die es auch innerhalb der sogenannten Naturweinbewegung gibt.

Jacques Dupont bestätigte den Wunsch der Menschen nach „Reinheit, Natur und Rückkehr zu den Wurzeln“. Er wies jedoch auf eine gewisse Verwirrung der Verbraucher bei der Unterscheidung zwischen Naturweinen und Bioweinen hin. Das Problem ist, dass die Verbraucher nicht genau wissen, was Naturwein ist.

Aus der Sicht der südlichen Hemisphäre schilderte Natalie Christensen das wachsende Interesse an einer natürlichen Produktion. „Neuseeland ist ein sehr innovatives Land, in dem die Menschen dem Ungewöhnlichen nachjagen, insbesondere, weil die Weingeneration sehr jung ist“.

Auf die Frage nach einer möglichen Globalisierung des Geschmacks und ob dies zum Erfolg des Naturweins geführt haben könnte, antwortete Luigi Moio, dass die Kraft des Weins seine Vielfalt sei. „Natürlich haben wir internationale Sorten wie Merlot und Chardonnay, aber darüber hinaus sind die Menschen auf der Suche nach außergewöhnlichen, regionalen Weinen. Und die Hervorhebung des Terroirs sorgt heute für noch mehr Vielfalt“.

Jamie Goode vertrat die Ansicht, dass man mit Stereotypen brechen wolle: „Wenn es um natürlichen Wein geht, ist nicht die Sorte, sondern der Ort der wichtigste Aspekt“.

Und der Geschmack?

Der Moderator stellte die Frage nach dem Merkmal „Lebendigkeit“: „Der Begriff von Lebendigkeit im Zusammenhang mit Naturweinen kommt daher, dass diese während der Weinbereitung und bis zur Abfüllung nicht unterdrückt wird“.

Nach Auffassung von Luigi Moio können Naturweine allerdings oft oxidieren, was vermieden werden sollte.

Jacques Dupont, der die Entwicklung der Verkostungen begleitet hat, war der Meinung, dass ein Weinkritiker die Produktionsphilosophie nicht kennen sollte, bevor er einen Wein verkostet und eine Note erteilt, da Blindverkostungen eine Verkostung ohne Ideologien ermöglichen. Für ihn gilt: „Wenn man einen qualitativ hochwertigen Naturwein herstellen will, sind fundierte Kenntnisse erforderlich“.

Für den in London lebenden Journalisten Jamie Goode ist der Begriff von Geschmack und Fehler grundsätzlich subjektiv, da die Schwellen von Mensch zu Mensch unterschiedlich sind. Er warf die Frage auf, wie entschieden wird, ob ein Wein fehlerhaft ist oder nicht, ob das Mäuseln (Mausgeruch) oder der Geruch von Pferdestall eher ein Fehler oder ein Merkmal ist.

Produktionsweisen

In Bezug auf den Zusatz von Sulfiten hob die erfahrene Winzerin Natalie Christensen die Risiken/Vorteile einer Weinbereitung ohne Verwendung von SO2 hervor. Sie erklärte, dass man ohne Zusatz von SO2 neue Aromen erhalten könne, die durch SO2 gedämpft würden. „Weine ohne SO2 herzustellen ist eine riskante Sache, aber manche sagen, ohne Risiko kein Erfolg.“

Wie Guido Baldeschi erklärte, hat Schwefeldioxid eine antioxidative und antimikrobielle Funktion und ermöglicht so die Alterung des Weins. Auf die Frage, ob das Konzept der „Lagerweine“/“gealterten Weine“ bei Naturweinen relevant sei, antwortete Jamie Goode: „Bei einer natürlichen Herstellung können früher Nuancen der Alterung des Weins auftreten. Für mich ist es schwierig, dies festzustellen, da die meisten Naturweine direkt konsumiert werden.“

Wie Luigi Moio in seinem neuesten Buch „The Breath of Wine" erklärte, ist in ausgewählten autochthonen Hefen nichts Chemisches. „Eine autochthone Hefe, die in Trauben oder im Keller vorhanden ist, kennt ihre Rolle nicht, die sie bei der alkoholischen Gärung spielen wird“. Ist die Kritik an den modernen Technologien berechtigt? „Kenntnisse der Mikrobiologie sind erforderlich, nicht um einzugreifen, sondern um die Gärungsprozesse zu unterstützen", fasst er zusammen.

„Die Appellation garantiert den Ursprung“

Naturwein ist eine Herausforderung und stellt auch das Konzept der Appellation in Frage. Ursprünglich, so Jacques Dupont, sollte das System der Appellationen der Betrugsbekämpfung dienen, aber es garantiert nicht den Geschmack, sondern die Herkunft. „Der Geschmack der Menschen entwickelt sich weiter und wir müssen die Türen für Weine verschiedener Stile öffnen“.

Minimale Eingriffe, um höchste Reinheit zu erzielen

In dem von der OIV veranstalteten Webinar gelang es, zwei unterschiedliche Philosophien und Ansätze zusammenzubringen, indem belegt wurde, dass zahlreiche Hersteller und Akteure, ob aus der Naturweinbewegung oder nicht, in die gleiche Richtung blicken: minimale Eingriffe, um die maximale Reinheit zu erreichen. Über die Produktion hinaus beleuchtete dieses Webinar die Erwartungen der Verbraucher sowie die unterschiedlichen Erfahrungen, die Weinliebhaber bei dem Genuss eines Glas Weins machen, und zeigte, dass soziale Aspekte berücksichtigt werden sollten, wenn es um das Thema Naturwein geht.

Letztlich ist es die Leidenschaft für den Wein, die Menschen aus aller Welt verbindet, auch in diesen schwierigen Zeiten, die wir derzeit erleben. Die OIV dankt den fünf internationalen Gästen für die Teilnahme an diesem Webinar und für ihren wichtigen Beitrag zu dem spannenden Thema Naturweine!

Jenseits der Philosophien kommt das Verlangen nach mehr Reinheit dem Wein zugute.

Das Webinar hier ansehen: