Empfehlungen der OIV für die Anwendung der Grundsätze der Agrarökologie im Weinbausektor
RESOLUTION OIV-VITI 680-2024
EMPFEHLUNGEN DER OIV FÜR DIE ANWENDUNG DER GRUNDSÄTZE DER AGRARÖKOLOGIE IM WEINBAUSEKTOR
DIE GENERALVERSAMMLUNG,
AUF VORSCHLAG der Kommission I „Weinbau“ und der Sachverständigengruppe „Nachhaltige Entwicklung und Klimawandel“,
GESTÜTZT auf Artikel 2 Absatz 2 b)i und c)iii des Übereinkommens vom 3. April 2020 zur Gründung der Internationalen Organisation für Rebe und Wein,
GESTÜTZT auf den Schwerpunkt 1 des Strategieplans 2020-2024 der OIV „Förderung eines umweltschonenden Weinbaus“, den Schwerpunt 2 „Förderung der Wirtschaftstätigkeit nach den Grundsätzen der nachhaltigen Entwicklung, des Marktwachstums und der Globalisierung“ und Schwerpunkt 3 „Beitrag des Weinbaus zur sozialen Entwicklung“,
GESTÜTZT auf die Resolution OIV-VITI 01-2002 über den Erhalt der Vielfalt,
GESTÜTZT auf die Resolution OIV-VITI 01-2003 über die Koordinierung der vorrangigen Themen im Weinbau, die der genetischen Vielfalt und generell der biologischen Vielfalt eine entscheidende Bedeutung beimisst,
GESTÜTZT auf die Resolution OIV-CST 518-2016 über die allgemeinen Grundsätze des nachhaltigen Weinbaus,
GESTÜTZT auf die Resolution OIV-VITI 641-2020 - Leitfaden der OIV für die Anwendung der Grundsätze des nachhaltigen Weinbaus,
GESTÜTZT auf die überarbeitete Fassung der „10 Elemente der Agrarökologie“, die vom 163. FAO-Rat im Dezember 2019 angenommen wurden,
IN ANBETRACHT des im Dezember 2019 veröffentlichten Berichts der Hochrangigen Expertengruppe für Ernährungssicherheit und Ernährung (HLPE-FSN)) der FAO zum Thema „Agrarökologische und andere innovative Ansätze für nachhaltige Landwirtschaft und Ernährungssysteme, die die Ernährung und die Ernährungssicherheit verbessern“,
IN ANBETRACHT des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die biologische Vielfalt und den globalen Rahmen für die biologische Vielfalt von Kunming-Montreal (Beschluss CBD/COP/DEC/15/4),
UNTER BERÜCKSICHTIGUNG neuer Studien, die sich auf die Grundsätze der Agrarökologie stützen und die im Vergleich zu den bisherigen Konzepten des Pflanzenschutzes eine umfassendere und ganzheitlichere Strategie darstellen,
ERKENNT Folgendes an:
1) Die FAO-Definition der Agrarökologie: „Agrarökologie ist ein holistischer und integrierter Ansatz, bei dem gleichzeitig ökologische und soziale Konzepte und Grundsätze bei der Gestaltung und dem Management von Ernährungs- und Landwirtschaftssystemen Anwendung finden. Er zielt darauf ab, die biologischen Wechselwirkungen zwischen Pflanzen, Tieren, Menschen und Umwelt unter Berücksichtigung der sozialen Aspekte zu optimieren, die für ein nachhaltiges und faires Ernährungssystem zu beachten sind.“
Darüber hinaus betonte die FAO: „Die Agrarökologie unterscheidet sich grundlegend von anderen Ansätzen für eine nachhaltige Entwicklung. Sie beruht auf Bottom-up- und territorialen Prozessen und trägt dazu bei, kontextualisierte Lösungen für lokale Probleme zu liefern. Agrarökologische Innovationen basieren auf der gemeinsamen Schaffung von Wissen und kombinieren Wissenschaft mit dem traditionellen, praktischen und lokalen Wissen der Produzenten. Durch die Stärkung ihrer Autonomie und Anpassungsfähigkeit stärkt die Agrarökologie Produzenten und Gemeinschaften als Schlüsselakteure des Wandels.
Anstatt die Praktiken nicht nachhaltiger landwirtschaftlicher Systeme zu optimieren, zielt die Agrarökologie darauf ab, Ernährungs- und Landwirtschaftssysteme zu verändern, die Ursachen von Problemen auf integrierte Weise anzugehen und ganzheitliche und langfristige Lösungen anzubieten. Dies beinhaltet einen deutlichen Schwerpunkt auf die sozialen und ökonomischen Dimensionen von Ernährungssystemen. Die Agrarökologie legt einen starken Fokus auf die Rechte von Frauen, Jugendlichen und indigenen Völkern.“
2) Die bereits von der OIV angenommenen Dokumente über die Nachhaltigkeit, insbesondere die Resolution OIV-VITI 641-2020 „Leitfaden der OIV für die Anwendung der Grundsätze des nachhaltigen Weinbaus“, schließen die meisten spezifischen Empfehlungen ein, die in den FAO-Dokumenten zur Agrarökologie aufgeführt sind. Dies gilt insbesondere für das Management der Produktionsprozesse auf Ebene der landwirtschaftlichen Betriebe und Kellereien, wie z.B. die Reduzierung von Betriebsmitteln, die Abfallwirtschaft[1] und den Schutz der Biodiversität[2]. Dennoch sollten auch einige allgemeine Aspekte der Agrarökologie in Bezug auf sozioökonomische Fragen und das Pflanzenmanagement berücksichtigt werden.
Daher sollte die Resolution OIV-VITI 641-2020 durch die folgenden allgemeinen agrarökologischen Grundsätze ergänzt werden, die Folgendes betreffen a) das System von Produktion und Verbrauch, das die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Akteuren der Lieferkette, die Fairness, die systemische Verbindung zwischen Erzeugern und Verbrauchern, die gemeinsame Schaffung von Wissen und die Bewirtschaftung von Land und natürlichen Ressourcen wie Wasser, Boden, Luft und Biodiversität umfasst; b) die Rolle des Weinbausektors im gesamten Lebensmittelsektor; c) die Annahme eines auf der systemischen Ökologie beruhenden Ansatzes, der eher auf die Kulturen als auf Widrigkeiten ausgerichtet ist, um die angestrebten Ziele in Bezug auf die Reduzierung der Betriebsmittel, die Verbesserung der Biodiversität und die Resilienz zu erreichen.
3) Die Umstellung auf agrarökologische Systeme, durch die die Gesundheit des Menschen und der Ökosysteme mit sozialem Wohlergehen verbunden wird und die dem agrarökologischen Paradigma entsprechen, das auf den 10 Elementen der FAO-Definition[3] beruht, wird nicht ohne größere politische Veränderungen auf internationaler, nationaler und lokaler Ebene und einer aktiven Förderung von Innovationen auf all diesen Ebenen erfolgen.
BESCHLIESST, die folgenden agrarökologischen Grundsätze für den Weinbausektor anzunehmen:
AGRARÖKOLOGISCHE GRUNDSÄTZE FÜR DEN WEINBAUSEKTOR
- Schutz der menschlichen, sozialen und kulturellen Werte des Weinbausektors, die die Unterstützung von Kultur und Ernährungstraditionen sowie die Schaffung von Solidarökonomien begünstigen können;
- Unterstützung der mit dem Weinbau verbundenen kulturellen Werte und Ernährungstraditionen, die eine entscheidende soziale Rolle für unsere kulturelle Identität und das Gefühl der Zugehörigkeit zu Gebieten und Ernährungssystemen spielen;
- Förderung des Aufbaus von Solidarökonomien, die die lokale wirtschaftliche Entwicklung unterstützen, Erzeuger und Verbraucher wieder zusammenbringen und die sozialen Grundlagen für eine integrative und nachhaltige Entwicklung stärken;
- Gemeinsame Schaffung und Austausch von Wissen über Agrarökologie im Weinbausektor mit dem Ziel, eine verantwortungsvolle Governance auf allen Ebenen der verschiedenen Akteure zu schaffen;
- Anpassung der wirtschaftlichen Rentabilität von Weinbaubetrieben durch Integration der ESG-(Environmental, Social, Governance)-Grundsätze in Managementstrategien und Werte in einem Sektor, in dem geographische Angaben oft eine maßgebliche Rolle spielen;
- Förderung der Autonomie von landwirtschaftlichen Betrieben durch Reduzierung des Einsatzes von Betriebsmitteln (Düngemittel, Pflanzenschutzmittel, Wasser, fossile Energien);
- Verfolgung eines regenerativen Zwecks durch Anbau von Deckfrüchten, Anbau von Mischkulturen, minimale Aufwühlung des Bodens, Kompost und minimalen Einsatz persistenter chemischer Pflanzenschutz- und Düngemittel;
- Verbesserung des Schutzes der Weinberge durch Förderung der ökologischen Gesundheit der Agrarökosysteme der Weinberge, durch Verbesserung der biologischen Vielfalt in der Luft und im Boden sowie durch Verbesserung der Bodengesundheit im Hinblick auf die Anpassung an den Klimawandel. Dieses Ziel wird verfolgt durch:
- Einen Ansatz für die Bewirtschaftung von Rebflächen, der präventiven Maßnahmen in einem neu festgelegten Rahmen für das Agrarökosystem von Weinbergen Vorrang einräumt, der Prophylaxe, die Nutzung der Resistenz oder Toleranz von Rebsorten, die Verbesserung der Bodenqualität und -gesundheit sowie die Förderung der biologischen Vielfalt durch Lebensraummanagement und, wenn möglich, die Diversifizierung der Nutzung landwirtschaftlicher Flächen umfasst, um das Agrarökosystem von Weinbergen weniger anfällig für biotischen Stress zu machen;
- Berücksichtigung traditioneller physikalischer, biologischer und genetischer Techniken mit den neuesten technologischen Innovationen im Pflanzenschutz wie biologische Pflanzenschutzmittel und Entscheidungsunterstützungssysteme (DSS), um auch die energetische Effizienz zu verbessern.
BESCHLIESST, die Sachverständigengruppe „Klimawandel und nachhaltige Entwicklung (SUSTAIN) damit zu beauftragen, diese agrarökologischen Grundsätze im Rahmen ihrer nächsten Revision in die Resolution OIV-VITI 641-2020 „Leitfaden der OIV für die Anwendung der Grundsätze des nachhaltigen Weinbaus“ aufzunehmen.
EMPFIEHLT den Mitgliedstaaten, die Agrarökologie als einen von vielen innovativen Ansätzen für einen nachhaltigen Weinbau zu berücksichtigen. Dies kann auf verschiedene Weise erfolgen:
- Förderung der Forschung und wissenschaftlicher und technischer Studien zur Agrarökologie im Weinbau, insbesondere zu Themen im Zusammenhang mit einer wirksamen Überwachung, der Quantifizierung des Nutzens und der Umstellungskosten;
- Unterstützung der Entwicklung und Förderung agrarökologischer Ansätze, die auf soliden wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen, und ihrer Anwendung im Weinbau als ein wichtiges Instrument zur Verbesserung der Nachhaltigkeit im Weinbausektor;
- Prüfung der Berücksichtigung und Umsetzung der Agrarökologie bei Produktionsverfahren entlang der gesamten Wertschöpfungskette des Weinbaus;
- Förderung der Festlegung öffentlicher Maßnahmen zur Bewertung und Ermittlung der Vorteile und Ergebnisse des Einsatzes agrarökologischer Produktionsverfahren in allen Weinbauregionen; Förderung des technisch-wissenschaftlichen Austauschs und Bündelung der Kompetenzen aller Akteure des Weinbausektors, um die Rolle und Bedeutung der Agrarökologie für die Erzeugung von Tafeltrauben, getrockneten Trauben, Safttrauben und Wein zu stärken.
[1] OIV (2018). Managing byproducts of vitivinicultural origin. https://www.oiv.int/public/medias/6267/managing-viticulture-by-products-web.pdf
[2] OIV (2018). Functional biodiversity in the vineyard. https://www.oiv.int/public/medias/6367/functional-biodiversity-in-the-vineyard-oiv-expertise-docume.pdf
[3] Barrios, E., Gemmill-Herren, B, Bicksler, A., Siliprandi, E., Brathwaite, R., et al. (2020). The 10 Elements of Agroecology: enabling transitions towards sustainable agriculture and food systems through visual narratives, Ecosystems and People, 16:1, 230-247. DOI: 10.1080/26395916.2020.1808705