Hildegard von Bingen (1098-1179)
Azélina Jaboulet-Vercherre
Lehrbeauftragte, Ferrandi Paris
In einer Zeit, in der wir uns gemeinsam über die drängenden Probleme der Gegenwart Sorgen machen, besinnen sich Menschen auf historische Prinzipien zurück, die uns helfen, die aktuellen Problemen zu bekämpfen. Sowohl die Landwirtschaft als auch die (Para-)Medizin wenden sich einem ganzheitlichen Verständnis der Welt zu und machen bestimmte Persönlichkeiten aus unserer gemeinsamen Vergangenheit wieder aktuell.
Die Allegorie der Natur kommt jedem mehr oder weniger bewusst in den Sinn und entführt uns in ein fantastisches Universum aus einer vergangenen Zeit. Denken wir an das Mittelalter, in dem Bernard Silvestre im zwölften Jahrhundert eine Kosmographie verfasst, in der die personifizierte Natur von einer noch mächtigeren Mutter Natur gelenkt wird: Noÿs. Sie ist als Intellekt, Weisheit und göttlicher Vorsehung zu verstehen und zeigt ihrer Tochter Natur den Weg, um die Ordnung ausgehend von einem makrokosmischen Chaos wiederherzustellen. Gemeinsam hätten diese beiden höheren Naturen die Macht, die Harmonie zwischen den Arten wiederherstellen.
Hildegard von Bingen, ein „ganzheitlich“ spirituelle Ausrichtung des Wissens
Um den Blick für die Vergangenheit weiter zu schärfen, bleiben wir im 12. Jahrhundert, das mit Hildegard von Bingen (1098-1179) die Wiederentdeckung des Naturalismus2 brachte. Als Nonne, Literatin, Ärztin, Visionärin und Musikerin zeigt Hildegard in ihren Schriften eine Sensibilität für den Rhythmus der Natur, die sie zu einer bedeutenden Vorreiterin der heutigen Anhänger der Biodynamik macht.
In ihren Werken wird die enge Beziehung zwischen den inneren Vorgängen im Körper und der Natur (Lebenskraft) betont, insbesondere in ihrem wissenschaftlichen Werk Physica, auch Liber subtilitatum oder Liber simplicis medicine (um 1150)3. Es präsentiert in Form einer Enzyklopädie eine Bestandsaufnahme der Schöpfung, in der auch die Kosmologie, die Kosmographie, die Menschen und ihrer Tätigkeiten, wie z. B. das Pflanzen von Reben und die Ernte, Krankheiten und ihre Heilmittel, Platz finden.
Obwohl sie es oft leugnete, kannte Hildegard die Klassiker. Ihre Originalität hat viele Dimensionen. Nicht zuletzt bewies sie, dass auch ihr als Frau nicht die Anerkennung oder sogar die Wertschätzung der Großen ihres Jahrhunderts (Bernhard von Clairvaux, Papst Eugen III.) verwehrt blieb. Sie musste sich jedoch gedulden – wie es bei außergewöhnlichen Denkern oft der Fall ist – und wurde erst am 7. Oktober 20124 zur „Kirchenlehrerin“ (Doctor Ecclesiae universalis) ernannt. Aber für uns noch wesentlicher ist ihre spirituelle Ausrichtung des Wissens, die wir als „ganzheitlich“ bezeichnen würden.
Das Schöpfungsbild der Hildegard von Bingen
Neben ihrer Kenntnis der Erde als eines der vier Elemente des Universums, interessiert sie sich für die verschiedenen Bodenarten und deren Verwendung5. In Cause et Cure (Ursachen und Behandlung der Krankheiten) gibt Hildegard Einblick in den Umfang ihres naturalistischen Denkansatzes, der von der Rolle der Sterne, der Sonne und des Mondes („Mutter aller Jahreszeiten“)6 dominiert wird. Sie verweist insbesondere auf den Einfluss des Mondes auf den Weinanbau (Pflanzung, Ernte, Eigenschaften der Rebe, aber auch Schädigung der Trauben) und verwendet den Begriff des Terroirs (hierarchische Gliederung der Böden je nach Sonneneinstrahlung und Feuchtigkeit, Beschaffenheit der Trauben je nach Anbaugebiet):
"Die Bäume, welche im Ostgebiet wachsen und von den Gewässern des Ostens getränkt werden, wachsen gut und bringen guten Ertrag in den verschiedenen Früchten der Obstbäume, die einen guten Geschmack haben …Die Weinberge dort im Osten bringen aber reichen Ertrag und liefern einen sehr guten Wein. […]
In den Ländern des Westens …ist der Wein stark, jedoch nicht wohlschmeckend und sehr haltbar, weil die Erde dort Wärme und Kälte besitzt. […]
[…] Der Wein gedeiht nämlich besser bei Wärme wie bei kalter Witterung.“7
Das Schöpfungsbild der Hildegard von Bingen basiert auf dem Bezugssystem der Genesis:
"Bei Erschaffung des Menschen aus Erde wurde eine andere Erde genommen, welche den Menschen darstellt, […] Und die Erde spendete ihre Kraft nach dem Geschlecht, nach der Natur, nach der Lebensweise und dem ganzen Verhalten des Menschen".8
Die Schöpfung uns wohlwollend zugetan ist, wenn wir sie auf vernünftige und sinnvolle Weise nutzen
Über die Wechselwirkung zwischen dem göttlichen Prinzip und der Ordnung der (physischen und menschlichen) Natur hinaus lässt sich dieser Spiegeleffekt erkennen, ein echter mittelalterlicher Topos, der sich aus den Überlegungen zum Kosmos ergibt. Die Abhängigkeit der Menschen von übergeordneten Regeln wird uns oft zu unserem Nachteil auferlegt. Diese Mahnung für Demut konfrontiert uns mit der Kraft der Natur, der wir unterworfen sind und die uns nährt, und nicht umgekehrt.
Für die visionäre Äbtissin offenbaren die Bewegungen der Sonne eine moralische Lehre:
"Mit schlechten Werken setzt (der Mensch) sich über die Gerechtigkeit hinweg, beschwert und verdunkelt Sonne und Mond: und diese lassen dann, dem ihnen gegebenen Beispiele folgend, Stürme, Regengüsse und Dürre auftreten."9
"Wenn im Winter die Sonne niedergeht, zeigt es Gericht und Strafe an mit Eis, Kälte und Hagel. Denn jede Sünde wird nach ihrer Art mit Feuer, Kälte oder anderen Heimsuchungen bestraft".10
Diese wenigen Sätze könnten als Beschwörung aufgefasst werden. Es scheint, dass der Zweck der „Rheinischen Sybille“ darin besteht, uns daran zu erinnern, dass die Schöpfung uns wohlwollend zugetan ist, wenn wir sie auf vernünftige und sinnvolle Weise nutzen.
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Anmerkung des Übersetzers: Die Quellenangaben beziehen sich auf die französische Fassung des Artikels, sofern keine anderen Angaben gemacht werden.
1 Bernard Silvestre, Cosmographie, Paris, Cerf, 1998.
2 Bernard Ribémont, De Natura Rerum. Etudes sur les encyclopédies médiévales, Orléans, Paradigme, 1995, p. 89.
3 Der Titel Physica erscheint mit der Erstausgabe. Für weitere Informationen über die Werke, auf die sich diese Studie stützt, wird auf Laurence Moulinier verwiesen, insbesondere auf « La terre vue par Hildegarde de Bingen » (März 2005), 205-230.
4 Michel Trouvé et Pierre Dumoulin, présentation du texte d’Hildegarde de Bingen, Les mérites de la vie. Principes de psychologie chrétienne, Editions des Béatitudes, 2014, p. 9.
5 Le livre des subtilités des créatures divines (Liber subtilitatum), trad. P. Monat, Grenoble, 1988, t. 1 p. 29-31.
6 Hildegarde de Bingen, Causae et curae, éd. et trad. Pierre Monat, Grenoble, Jérôme Million, p. 29.
7 Hildegard von Bingen: Ursachen und Behandlung der Krankheiten, Vom Wachsen der Bäume, des Getreides und des Weinstocks, 2013 Mathias Lempertz GmbH
8 Hildegard von Bingen: Naturkunde. Das Buch von dem inneren Wesen der verschiedenen Naturen in der Schöpfung, nach den Quellen übersetzt und erläutert von Peter Riethe, Salzburg 1959.
9 Ebenda
10 Hildegard von Bingen, Welt und Mensch, Das Buch „De Operatione Dei“, aus dem Genter Kodex übersetzt und erläutert, Die zehn Visionen vom Wirken Gottes in Welt und Mensch, Otto Müller Verlag Salzburg, PDF erstellt von André Rademacher